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Politik

Kann sich Macron gegen die Wut der „Gelbwesten“ durchsetzen?

Die „Gelbwesten“, ein Begriff, der sich in den Nachrichten in Deutschland und dem Rest der Welt mittlerweile durchgesetzt haben. Gemeint sind die Protestler in Frankreich, die Macron unbedingt weghaben wollen und die um bessere Lebensbedingungen und mehr Geld, sprich Einkommen, kämpfen. Unter ihnen bewegen sich aber auch viele Chaoten und Randalierer, die nur zerstören und polarisieren wollen. Jetzt will die Regierung in Paris mit harter Hand gegen die Demonstranten vorgehen – und die politischen Gegner von Macron mundtot machen.

Sechzehn Stunden nachdem Nathan aufgebrochen ist, um den Präsidenten zu stürzen, fragt er sich, ob das die Revolte ist, die er sich vorgestellt hat. Nathan lehnt an einer Hauswand in der Avenue Marceau in Paris und blickt auf eine Gruppe Jugendlicher, die mit Pflastersteinen das Schaufenster eines Golfladens einschlagen. Die Jungs hauen und treten, bis die Scheibe zu Bruch geht. Dann stürmen sie mit Golfschlägern und Turnschuhen davon. „Vive la France!“, ruft einer und lacht. „Oh Gott, was für Idioten!“, sagt Nathan, die Stimme voller Wut. Die anderen nicken. Die anderen, das sind Nathans Freunde, die an diesem Samstag mit ihm nach Paris gekommen sind: Charlene, Fabien und Nicolas. Alle 21 Jahre. Alle in gelben Westen.

Es ist der vierte Samstag der Proteste in Frankreich, „Acte IV“, wie ihn die Organisatoren mit Gespür für Theatralik genannt haben. Was angefangen hatte mit einer Onlinepetition einer Internethändlerin gegen die Erhöhung der Steuer auf Benzin und Diesel, ist zur größten Protestbewegung seit Jahrzehnten herangewachsen. Überall im Land haben Aktivisten Mautstationen besetzt; sie blockieren Fabriken und   Verkehrskreisel. Die gelben Warnwesten, das Kennzeichen der Bewegung, sind inzwischen zu Ikonen geworden — das Che-Guevara-Barett des Winters 2018. Es scheint, als sei der Geist der Revolte aus der Flasche entwichen und als könnten weder Zugeständnisse noch Härte ihn wieder einfangen.

Zehn Stunden sind Nathan und seine  Freunde schon in Paris unterwegs. Ihre Augen sind vom Tränengas rot geschwollen. Die Krawalle hier, das ist nicht, was sie sich zu Hause vorgestellt hatten. „Wenn sie wenigstens Banken oder Regierungsgebäude angreifen würde. Aber nicht so was. Da zahlen doch am Ende die kleinen Leute selbst“, sagt Nathan. Nicolas steckt sich eine Selbstgedrehte in den Mund: „Und was jetzt? Wir können noch nicht nach Hause fahren.“ Die vier schauen ein wenig ratlos. „Also ich den Eiffelturm sehen“, sagt Fabien schließlich, der sonst selten etwas sagt. „Wer weiß, wann wir mal wieder in Paris sind!“ Nathan und seine Freunde kommen aus kleinen Dörfern rund um Angers und sind zusammen zur Schule gegangen. Dieser Samstag ist der 22. Tag des Protests. Zu   1–lause haben sie mit anderen eine Mautstationen der Autobahn besetzt, durch die man nun kostenlos hindurchfahren kann.

Heute sind sie um zwei Uhr morgens aufgestanden, haben sich in einen klapprigen Peugeot gesetzt Richtung Hauptstadt. Die Demonstration in Paris sollte der Höhepunkt ihres Protests sein. Doch jetzt erst mal der Eiffelturm. Vorne läuft Fabien, der Schweigsame. Ein Landschaftsgärtner, Monatseinkommen 1500 Euro netto. Hinter ihm Nathan, der Anführer der Gruppe, der mit Fabien zusammen in einer Baumschule arbeitet, ebenfalls für 1500 netto. An seiner Hand läuft Charlene, die in einer Elektrofabrik arbeitet. 1400 netto. Zuletzt Nicolas, der Sozialist der Gruppe. Momentan arbeitssuchend. Politisch verbindet die vier nicht sonderlich viel. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen hat Fabien Marine Le Pen gewählt. Nicolas den Linkssozialisten Jean-Luc Mélenchon. Und Nathan und  haben gar nicht gewählt. Wen auch? Sonderlich politisch waren sie bislang nicht.

Die Gruppe ist ein ziemlich gutes Spiegelbild der Protestbewegung. Die „Giletsjaunes“ lassen sich nur schwer auf einen Nenner bringen. Einfache Arbeiter sind dabei, Bauern, Angestellte, erstaunlich viele Frauen, auch Rentner. Sie eint das Gefühl, sich in ihrem meist ländlichen Umfeld nicht mehr repräsentiert zu sehen von der Politik. Klima retten, schön und gut — aber was ist, wenn am Ende des Monats das Geld fehlt, um den Fußballverein fürs Kind zu bezahlen? So widersprüchlich und unterschiedlich manche Motive sind — so einig ist man sich allerdings im Ziel der Wut: Emmanuel Macron, der „Präsident der Reichen“, wie Nicolas aus der Gruppe ihn nennt.

Als Macron im Mai 2017 mit großer Mehrheit in der Stichwahl zum Präsidenten gewählt wurde, schien er vielen als Hoffnungsträger ganz Europas. Ein französischer John F. Kennedy, der Moliere zitieren konnte. Eine Mischung aus Manager und Monarch, der sein Land in eine „Start-up-Nation“ verwandeln wollte und Frankreichs Stimme auf der Weltbühne wieder hörbar machen wollte. Doch in der Begeisterung übersahen viele, wie fragil Macrons Sieg war. Wie wenig er für das Landstand. Bei der Stichwahl zwischen ihm und Marine Le Pen gaben vier Millionen Wähler einen nichtausgefüllten oderungültigen Stimmzettel ab. Zählt man die 10,7 Millionen dazu, die Le Pen gewählt haben, und die 12,1 Millionen Nichtwähler,  sind es 26,8 Millionen Franzosen, die nicht  für Macron gestimmt haben, rund 56 Prozent der Wahlberechtigten.

Und Macron tat anschließend wenig, um  die Skeptiker für sich einzunehmen. Mal nannte er Reformgegner „Faulenzer“, dann kanzelte er vor laufenden Kameras einen  Schüler ab, der ihn nicht als „Monsieur le President“ angesprochen hatte. Und er regierte durch. Die Abschwächung des Kündigungsschutzes, die Reform der Staatsbahn SNCF, all das brachte er zügig durchs Parlament und ließ sich von Protesten kaum beirren. Gewerkschaften und Parteien als Vermittlerpassen nicht zu seinem „vertikalen“ Führungsstil.

Jetzt allerdings rächt sich, dass Macron sich dieser Puffer entledigt hat. Der Protest der „Gelben Westen“ ist die größte Krise seiner Amtszeit, jener Moment, den Historiker womöglich später einmal als entscheidenden Moment dieses Präsidenten definieren werden. Der Volkszorn richtet sich fast ausschließlich auf ihn. „Macron, démission“, Rücktritt Macron, das ist der Schlachtruf. Ihm fehlen die Instanzen, die ihm und seiner Regierung als legitime Gesprächspartner dienen könnten. Es gibt nur Sieg oder Niederlage. Und auf einen Sieg der Regierung deutet im Moment wenig hin. Seine Zugeständnisse vom Montagabend, etwa die Erhöhung des Mindestlohns um monatlich 100 Euro, klangen eher nach Kapitulation — und es ist doch nicht klar, ob sie die Proteste rasch beenden werden.

Die vier Freunde haben sich inzwischen auf den Weg Richtung Eiffelturm gemacht. Sie laufen vorbei an schwer bewaffneten Polizisten und einem zerstörten Mini Cooper, dem Randalierer einen Weihnachtsbaum ins Schiebedach gepresst haben. Manche Ladenbesitzerhaben gelbe Warnwesten in ihre Schaufenster gelegt, in der Hoffnung, dieses Zeichen der Solidarität möge ihr Geschäft vor den „Casseurs“, den Vandalen, bewahren. Nathan postet von alldem Videos auf Facebook, für die Mitstreiter zu Hause.

Da stürmt ein Stoßtrupp der Gendarmerie auf Nathan zu und presst ihn und die anderen mit Schlagstöcken gegen eine Häuserwand. Charlene fängt an zu weinen, Nathan schreit: „Was wollt ihr? Wir haben nichts gemacht!“ Erst nachdem die Polizei bei ihm und den anderen keine Waffen gefunden hat, können sie weitergehen. Als sie ein paar Minuten später vor dem Eiffelturm stehen, wirkt Charlene noch zittrig. Es hat angefangen zu regnen. „Was für ein verrückter Tag. Was für ein verrücktes Land“, sagt Nathan. Ein bisschen wirken die Freunde jetzt erleichtert, dass sie wieder zurück nach Hause dürfen, weg von den brennenden Autos, den Tränengasschwaden und Barrikaden. Gesellschaftliche Veränderungen vollziehen sich in Frankreich — in Anspielung auf dessen geografischen Umriss häufig „Hexagone“ genannt — nicht in Verhandlungsrunden, sondern auf der Straße. Der Kampf ist hier Kultur.

Die Demonstration, selbst wenn sie in Gewalt ausufert, gilt als legitimes Mittel der Politik — und als erfolgreiches. In der Folge des Mai 1968 wurde Charles de Gaulle von der Macht vertrieben, 1995 die große Rentenreform gestoppt. Eine Ökosteuer, ähnlich dem Vorhaben von Macron, musste eine Regierung, die des Sozialisten Francois Hollande, 2014 schon einmal zurücknehmen. Auch dieser Tage feierte die Straße schon den ersten großen Sieg: Die Erhöhung der Kraftstoffsteuern wurde abgeblasen. Doch es scheint, als ob dieses Nachgeben die Tür geöffnet hätte für immer neue Forderungen. Schüler, Bauern, Fernfahrer, sie alle wollen nun mehr Geld, weniger Steuern, mehr Lehrer. Jetzt oder nie, das ist die Stimmung.

Auch Nathan und seine Mitstreiter haben am Tag nach dem „Acte IV“ wieder Position bezogen, zu Hause in der Heimat. Die Polizei hat mittlerweile die Bilanz des Samstags gezogen. Weniger Demonstranten als in den Wochen zuvor — aber mehr Festnahmen, allein in Paris mehr als 1000. Dazu wieder Bilder von brennenden Autos und zerstörten Geschäften, die all jenen Auftrieb geben, die schon seit Jahren Frankreich für unreformierbar halten. Nathan steht an der besetzten Mautstation in Chemillé und wärmt sich die Hände über einem Feuer. Mehr als 300 Kilometer sind es von hier bis Paris. Auf den abgewetzten Sofas und Sperrholzbänken sitzen zehn seiner Mitstreiter. Nathan erzählt ihnen, wie es war, im Chaos und im Tränengas.

Sie alle stammen hier aus der Gegend, die zu 80 Prozent von Landwirtschaft lebt. Kaum einer verdient mehr als 1300, 1400 Euro netto im Monat. Sofort landet das Gespräch bei Macron. Die Leute aus Chemillé sind ungeduldig. Denn das Problem hier ist so alt wie mancher Hof der Region — das einer Provinz, die sich abgehängt und vernachlässigt fühlt. Das Frankreich von heute ist nicht mehr jener scharfe Gegensatz von Paris und dem  „désert franqais’l der französischen Wüste, wie es 1947 der Geograf Jean-Frangois Gravier genannt hat. Seit Jahrzehnten bemüht sich der Staat um Dezentralisierung. Prestigeträchtige Elite-Hochschulen wie die ENA wurden zum Teil aus Paris verlagert. Auch dank europäischer Regionalförderung sind Städte wie Montpellier und Bordeaux zu wirtschaftlich starken und attraktiven Zentren herangewachsen. Doch außerhalb der Städte, auf dem Land, wie hier bei Angers, wo Bahn- und Busverbindungen ausgedünnt worden sind, wo man auf das Auto angewiesen ist, hier hat sich die Wut angestaut, die sich nun entlädt.

Sie hätten Paris und die leeren Worte der Politiker von dort satt, heißt es am Feuer. Ein paar glauben, dass die Bewegung der „Gelbwesten“ so groß werden könnte wie 1968. Damals, als französische Studenten die Werte der westlichen  Welt verschoben. Längst geht es manchen nicht mehr nur um günstigeres Benzin. Der Protest der „Gelben Westen“ ist ausgefranst. Konkrete und nachvollziehbare Forderungen der einen stehen neben der diffusen Idee der anderen von einem besseren Leben in einer gerechteren Welt. Die Bewegung ist zu einer Projektionsfläche für unterschiedlichste Begehren geworden; man will dabei gewesen sein — und sei es nur, um später den Kindern davon berichten zu können.

Nathan gibt sich pragmatisch. „Das Wichtigste ist aber, dass die Menschen am Ende mehr Geld in der Tasche haben. Er und Charlene leben 30 Minuten von   der Proteststation entfernt in einem kleinen weißen Haus zwischen alten Bauernhöfen und Maisfeldern am Rande des Dorfs Le Puiset-Doré. Ein winziger Ort, hineingetupft in den sanften Hügel der Region Anjou. „La France profonde“ — tiefste französische Provinz. Zu Hause trägt Charlene an diesem Tag einen Schal, weil Nathan noch kein Feuerholz gehackt hat — ein einfacher Ofen im Wohnzimmer ist die einzige Heizung im Haus. Auch die beiden sind aufs Auto angewiesen. „Macrons Ökosteuer hätte uns das Genick gebrochen“, sagt Nathan. 250 Euro gebe er jeden Monat schon jetzt für Benzin aus.

Nathan und Charlene passen eigentlich nicht in die Kategorie der „Faulenzer“. Neben dem Job in der Baumschule arbeitet Nathan noch als Hundesitter. Charlene verdiente ihr Geld bis vor Kurzem in einer Großküche. Abends, wenn die Kollegenwegwaren, ließ sie Lebensmittel in ihrer Tasche verschwinden. Statistiken zeigen, dass die Reformen Macrons tatsächlich vor allem Arbeitnehmern mit eher geringen Löhnen wie Nathan und  Charlene geschadet haben. Während das oberste eine Prozent der Franzosen sechs Prozent an Kaufkraft gewonnen hat, verlor besonders das untere Viertel. „Diese Lage hat uns  zu den ,Gelben Westen‘ gebracht“, sagt Nathan. „Die Angst vor dem leeren Konto. Die  Angst vor der nächsten Rechnung.“ Vor ein paar Wochen hätten er und CharIene am Küchentisch gesessen und nicht  weitergewusst. Das Auto war kaputt, sie hatte einen eingewachsenen Fußnagel, für den die Krankenversicherung nicht aufkommen wollte. Auf Facebook stieß Nathan auf die „Gilet jaunes“. Das Paar fuhr zur Mautstation und setzte sich ans Feuer. Das habe sich gut angefühlt, sagt Nathan. Die Menschen. Das Zusammensein. Dennoch mehr als um Geld, sagte Nathan, gehe es bei  den „Gelbwesten“ um Solidarität. Aber wie lange soll es so weitergehen mit den Protesten? Bis ins neue Jahr? Bis Macron zurücktritt? Bis die Gewalt eskaliert. Ein Ende der Demonstrationen ist bisher nicht in Sicht.

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