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Gastbeitrag: „Oh wow, du studierst? Was denn genau?“

„Du musst einfach studieren. Du bist zu gut für eine Ausbildung“, sagte mir meine Schwester bevor mein Studium begann. Ich war von ihrer Aussage so überrascht, dass ich gar nicht wusste, was ich erwidern sollte. Sie selbst hatte erfolgreich eine Ausbildung zur Konditorin absolviert und arbeitete seit drei Jahren in der Patisserie eines Schokoladenunternehmens. Wohingegen ich mein Studium gerade erst begonnen hatte und noch keine konkrete Vorstellung hatte, wo mich mein Weg hinführen wird. Wie kam sie darauf, dass ausgerechnet ich, als planlose 22-jährige, unbedingt studieren müsste? Für mich persönlich war beides immer eine Option. Mir war nur wichtig eine Ausbildung zu erhalten, ob nun an einer Universität, Hochschule oder in einem Betrieb.

Ich habe weitere Menschen aus meinem Umfeld befragt und überwiegend die gleichen Antworten erhalten. „Ein Studium ist besser. Mit einer Ausbildung verdient man kein gutes Geld und du hast beruflich weniger Möglichkeiten.“ Besonders Leute, die eine Ausbildung absolviert hatten, haben ihren Ausbildungsweg in Relation zu einer akademischen Laufbahn oft als zweitklassig betrachtet.

Woher kommt diese Denkweise? Es ist kein Geheimnis, dass die Anzahl an Studierenden in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen hat. Laut einer Umfrage des statistischen Bundesamtes am Anfang der Jahrhundertwende war die Anzahl mit 1,7 Millionen Auszubildenden und 1,9 Millionen Studierenden noch halbwegs ausgeglichen. Knapp 20 Jahre später gibt es bundesweit fast 3 Millionen immatrikulierte Studierende, aber nur noch rund 1,3 Millionen Auszubildende.

Mittlerweile gibt es so viele Studierende, dass wir uns in den Vorlesungssälen um die Stühle streiten müssen. „Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der muss sehen, was übrigbleibt“ lautet die Lektion, die Erstsemester direkt lernen müssen. Im Kontrast dazu können die Ausbildungsstellen nicht mehr besetzt werden, da die Nachfrage rückläufig ist. Ausbildungsberufe geraten zunehmend in den Hintergrund. Viele locken die besseren Verdienstmöglichkeiten an die Universität. Andere wiederum sehen in einem Studium die Ausbildung der gehobenen Gesellschaftsschicht.

Mit der wachsenden Diskrepanz zwischen der Anzahl an Studierenden und der Anzahl an Auszubildenden wächst auch die Kluft zwischen beiden Berufszweigen. „Ah, du hast eine Ausbildung gemacht? Okay.“ oder „Oh wow, du studierst? Was denn genau?“

Das sind natürlich extreme Beispiele und ich bin überzeugt, dass das nicht pauschal auf jeden zutrifft. Die Menschen beabsichtigen diese unbewusste Kategorisierung in „Nur-Auszubildende“ und „Wow-Studentierende“ gar nicht, aber wenn ich als Studentin im ersten Semester in meinem Nebenjob, in den ich vollkommen unqualifiziert eingestiegen bin, fast genauso viel verdiene, wie meine Schwester im dritten Lehrjahr in einem Vollzeitjob, kann ich nicht abstreiten, dass das ein schlechtes Licht auf die Ausbildungsbranche wirft. Sie „ackert“ wortwörtlich 40 Stunden pro Woche, sowie an Sonn- und Feiertagen. Während ich meine 15 bis 20 Stunden Homeoffice die Woche arbeite, prinzipiell an Sonn- und Feiertagen frei habe und trotzdem ein fast identisches Gehalt bekomme. Kein Wunder, dass meine Generation zum Studium tendiert.

Dennoch darf nicht vergessen werden, dass die Ausbildungsberufe von enormer Relevanz sind. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass eine Pflegekraft – besonders in der momentanen Situation – wichtiger ist als ein Studienabsolvent mit einem Master in „prähistorischer Archäologie“. Aber auch andere Berufe, wie Maler, Tischler, BVG-Fahrer und alle anderen systemverbundenen Ausbildungsberufe sind essentiell für unsere Gesellschaft. Und ein Problem, dass sie alle gemeinsam haben ist der akute Personalmangel. Dagegen gibt es jährlich vier verschiedene Studienangebote für den Studienbereich „Geschichte und Kultur des Vorderen Orients“.

Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich diese Studiengänge keineswegs herabsetzen möchte. Nur aufgrund dieses weit gefächerten Studienangebots und erleichterten Zugangsmöglichkeiten haben wir in Deutschland die Möglichkeit, beruflich das zu erlernen, was uns wirklich interessiert. Aber bei der Prioritätensetzung sollte berücksichtigt werden, dass diejenigen Berufe, die wir für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft dringend benötigen, auch entsprechend gefördert werden. Und da gewinnt der Handwerker-Lehrling meiner Meinung nach im Vergleich zum Neogräzistik-Studenten.

Jeder sollte den Beruf erlernen, mit dem er seiner Leidenschaft nachgehen kann. Aber sich aufgrund der Bezahlung und der gesellschaftlichen Akzeptanz oder Zurückweisung gegen einen Beruf zu entscheiden, hat nichts mehr mit Leidenschaft zu tun. Vielmehr weist das auf eine Problematik hin, derer sich die Menschen bewusstwerden müssen. Wenn es keine BVG-Fahrer mehr gibt, wer fährt uns dann in die Uni? Wenn es keine Handwerker mehr gibt, wer baut dann unsere Häuser? Wenn es keine Pflegekräfte mehr gibt, wer versorgt uns, wenn wir es selbst nicht mehr können? Die Attraktivität von Ausbildungsberufen sollte in gleichem Maße gefördert werden, wie das Studienangebot und damit die Denkweise für beide Berufswege angepasst werden.

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