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Flexible Arbeitszeitmodelle sind die Zukunft: Die Commerzbank zeigt wie’s geht

Kaum vorstellbar, dass noch vor 10 Jahren jemand gesagt hätte, dass feste Arbeitszeiten irgendwann einmal der Vergangenheit angehören. Dass eben nicht von 9 – 17 Uhr nach starrem Muster malocht werden muss. Ob in Büros, in Fabrikhallen oder in den Behörden. Sondern dass die Mitarbeiter sich eigene Zeit- und Arbeitspläne machen, Time-Management, wie es Neudeutsch heißt. Die Commerzbank als einer der größten Arbeitgeber in Deutschland hat nun ein neues Arbeitsmodell im Sinne digitaler Strukturen ausgearbeitet und mit der praktischen Umsetzung begonnen.

Eine neue Epoche der Arbeit hat bei der Commerzbank begonnen: In ihrem Digital Campus in Frankfurt am Main tüfteln interdisziplinäre Teams aus 1.000 Vordenkern daran, den Finanzkonzern fit für die Zukunft zu machen. IT-Fachleute, Human-ResourcesManager, Juristen und Finanzexperten sollen bis 2020 dafür sorgen, dass fast alle relevanten Unternehmensprozesse der Commerzbank digital ablaufen. „Unser kommender Geschäftserfolg hängt nicht nur davon ab, wie wir arbeiten, sondern auch wann und wie lange“, sagt Martin Fischedick. Als Bereichsvorstand Human Resources hat er in dem digitalen Zukunftsprojekt eine neue Zeitregelung eingeführt, die in einem traditionellen Großunternehmen als revolutionär gelten kann: die Vertrauensarbeitszeit. Das heißt: Anders als in den übrigen Abteilungen der Commerzbank erfassen die Beschäftigten des Digital Campus ihre geleisteten Arbeitsstunden nur, wenn sie mehr als acht Stunden am Tag arbeiten. Der Arbeitgeber vertraut ihnen also einfach. „Ich kann von einem Team, das agil und disruptiv unsere Zukunft gestalten soll, nicht verlangen, sich den strikten Kontrollmechanismen der Vergangenheit anzupassen“, begründet Fischedick diesen Schritt. „Die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes sind natürlich auch im Rahmen der Vertrauensarbeitszeit einzuhalten.“

GESELLSCHAFTLICHE DEBATTE

Die Vertrauensarbeitszeit ist nur eines der flexiblen Arbeitszeitmodelle, die zurzeit in der Wirtschaft immer mehr an Bedeutung gewinnen. Weitere Modelle sind unter anderem Gleitzeit, Funktionszeit, Wahlarbeitszeit, Jobsharing und Lebensarbeitszeit. Der feste Achtstundentag, beschrieben mit der Formel „Nine to Five“, gilt als Auslaufmodell, auch wenn er viele Branchen weiterhin prägt. In ihrer Ende 2017 veröffentlichten Studie „Flexible Arbeitszeitmodelle — Überblick und Umsetzung“ hat beispielsweise die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) ermittelt, dass die Zahl derjenigen, die vorwiegend „Normalarbeitstage“ absolvieren, stetig sinkt. „Vier gesellschaftliche Megatrends führen dazu, dass unser Berufsleben immer weniger auf die traditionellen Arbeitszeiten zwischen 7 und 19 Uhr ausgerichtet ist: Globalisierung, Digitalisierung, Wertewandel und demografische Entwicklung“, weiß VBG-Arbeitspsychologin Dr. Susanne Roscher.

Der Wertewandel wird vor allem durch junge, gut ausgebildete Berufseinsteiger verkörpert. Bei den Angehörigen dieser sogenannten Generationen Y und Z steht eine selbstbestimmte Work-Life-Balance hoch im Kurs. Möglich machen das vor allem die voranschreitende Digitalisierung und die mit ihr einhergehende Option, zeit- und ortsunabhängig zu arbeiten. Entwicklungen, die auch mit den Begriffen New Work und Arbeiten 4.0 umschrieben werden. Digitale und universelle Workflows sind mittlerweile eine Selbstverständlichkeit. Commerzbank-Bereichsvorstand Martin Fischedick sieht hier die Notwendigkeit für Unternehmen umzudenken — schon aus eigenem Antrieb. „Nur Unternehmen, die ) flexible Arbeitszeiten und auch räumliche Flexibilität bieten, sind für die jungen Generationen ein attraktiver Arbeitgeber“, sagt er.

Theoretisch könne die gesamte Gesellschaft von einer Flexibilisierung der Arbeitszeiten profitieren, ist VBG-Expertin Dr. Roscher überzeugt. „Wenn es mehr Spielräume gibt, wann, wo und wie lange Beschäftigte tätig sind, kann dies nicht nur die wirtschaftliche Produktivität von Unternehmen erhöhen, sondern auch zu einer besseren Work-Life-Balance von Millionen von Menschen beitragen“, sagt sie. Aber es sei wie bei vielen Entwicklungen, die wir derzeit in der Arbeitswelt beobachten: Sie bringen — richtig gestaltet — große Chancen für Unternehmen und Beschäftigte mit sich, allerdings entstehen auch neue Gefährdungen und Nebenwirkungen bei unzureichender Arbeitsgestaltung.  Umstritten ist nicht zuletzt, wie die neue Flexibilität im Detail gestaltet  werden soll. Zugespitzt formuliert: Die Arbeitgeberseite wünscht sich  insbesondere Möglichkeiten zur Ausweitung der Arbeitszeit, die Arbeitnehmerseite dagegen mehr Optionen zur Verkürzung.

VORTEILE DER FLEXIBILITÄT

Die Commerzbank zeigt in diesem Zusammenhang, wie eine Lösung aussehen kann. „Flexibilisierung muss nicht zu längeren Arbeitstagen und  einer stärkeren Belastung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern  führen — im Gegenteil“ , ist Martin Fischedick überzeugt. Durch eine kluge  Gestaltung des Arbeitszeitmodells profitieren aus seiner Sicht alle Beteiligten: die Kunden der Commerzbank, die Beschäftigten des Bankhauses  und das Unternehmen selbst. „Für Bankkunden ist es heutzutage eine Selbstverständlichkeit, dass  sie ihre Finanzgeschäfte rund um die Uhr abwickeln können, entweder persönlich oder auf digitalem Wege. Für wichtige Vermögensentscheidungen erwarten sie auch außerhalb der Schalteröffnungszeiten eine telefonische Beratung. Eine Bank, die in einem umkämpften Markt erfolgreich sein will, muss sich nach diesen Bedürfnissen der Kunden richten.“ Für die Beschäftigten einer Bank bedeutet das, mitunter frühmorgens oder am Abend tätig zu sein. Möglich ist dies durch die ortsunabhängigen digitalen Kommunikationsmittel — und durch das Prinzip der Gleitzeit das die Commerzbank abteilungsübergreifend eingeführt hat. „Die gleitenden Arbeitszeiten werden von den Mitarbeitern genutzt, um sich den Tagesablauf freier einteilen zu können — sei es für die Verwirldichung von persönlichen Interessen oder für die Kinderbetreuung“, berichtet Fischedick, der selbst dreifacher Familienvater ist. Wer wann arbeitet, regeln die Mitglieder eines Teams eigenverantwortlich untereinander. Eingriffe durch Vorgesetzte sind in der Regel nicht nötig.

RISIKEN MINIMIEREN

Flexible Arbeitszeiten haben allerdings nicht nur Vorteile, sondern bergen auch Risiken. „Es besteht vor allem die Gefahr, dass sie vermehrt zu überlangen Arbeitstagen führen“, warnt VBG-Arbeitspsychologin Dr. Susanne Roscher. „Langes Arbeiten ist weder gesund noch effektiv. Bei Ermüdung sinken Konzentrationsfähigkeit und Leistung. Zugleich wächst das Risiko von Arbeitsunfällen überproportional“, erläutert sie.  Laut der Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ist dies bereits nach der siebten Arbeitsstunde der Fall. „Die Folgen von regelmäßiger Arbeitsüberlastung können Schäden des Herz-Kreislauf-Systems, Magenprobleme, Diabetes und psychische Erkrankungen sein“, berichtet Dr. Roscher. „Deswegen empfiehlt die VBG: Die tägliche Arbeitszeit sollte acht Stunden nicht dauerhaft überschreiten.“ Human-Resources-Fachmann Fischedick von der Commerzbank ist sich der Risiken von flexiblen Arbeitszeitmodellen bewusst. Das Unternehmen hat daher geeignete Gegenmaßnahmen ergriffen. „Unsere ,intelligente‘ Gleitzeituhr erfasst die geleisteten Arbeitszeiten. Wenn ein Mitarbeiter zu lange arbeitet, erhält sowohl der Mitarbeiter selbst als auch der direkte Vorgesetzte einen Warnhinweis.“ Für Überstunden erfolgt zeitnah ein entsprechender Ausgleich.

GELEBTER WERTEWANDEL

Die Commerzbank hat den Wertewandel zu einer wesentlich stärker auf individuelle Bedürfnisse ausgerichteten Arbeitsorganisation bereits verinnerlicht. Zu den innovativen Arbeitszeitmodellen, die das Finanzunternehmen seinen Beschäftigten bietet, zählen neben der Vertrauensarbeitszeit und der Gleitzeit auch Jobsharing, Sabbaticals sowie das „Keep in touch“, bei dem Mütter und Väter während der Elternzeit mit einer geringfügigen Teilzeit in Kontakt mit der Bank bleiben. Auch die örtliche Flexibilität wird etwa durch die Möglichkeit von Arbeiten im Homeoffice gefördert. Eine Entwicklung innerhalb eines multinationalen Unternehmens, die vor allem eines aufzeigt: Die neue Arbeitswelt ist keine Zukunftsmusik — sie hat bereits begonnen.

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