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Leckeres „Streetfood“ ist in Großbritannien der Renner

Die Briten entwickeln sich weiter, zumindest was die Esskultur und geschmackvolles Essen betrifft. Schluss mit langweiliger englischer Küche, wo Lamm mit Minzsoße und Fish and Chips gereicht werden: Mittlerweile wird überall exotisch und international gekocht, gemixt und gegessen. In Hinterhöfen, alten Hallen oder auch im Rotlichtviertel der Städte. Besonders London steht dabei im Mittelpunkt. Touristen und Einheimische kommen hierhin zum essen, da, wo Streetfood gereicht wird, welches oft besser ist als in den Restaurants. Zubereitet von Menschen aus aller Herren Länder und wo dann Fotos für Instagram geschossen werden und die Welt teilnehmen kann am kulinarischen Treiben.

Der Weg in Londons veganes Paradies führt vorbei an den Verlockungen des Fleisches. Durch eine dunkle, enge Passage muss zuerst gehen, wem der Sinn nach Gemüse steht, und dabei Angeboten von erotischen Massagenüber Lap-Dancing-Clubs bis zu Potenzmitteln widerstehen. Als Belohnung am Ende des Sündentunnels grüßt samstags der Stand von Jake’s Vegan Steaks, wo gegrillt und in  Brötchen gelegt wird, was aussieht und duftet wie Fleisch, aber keins ist.

Jake’s ist der Anfang von Londons neuem Vegan Market in der Rupert Street im Stadtteil Soho. „Dirty Vegan“, „sündhaft vegan“, heißt der Trend der pflanzenbasierten Gastronomie und passt somit perfekt in Londons Rotlichtviertel. Hinter dem Namen verbirgt sich schlicht Fast Food, nur eben veganes. Denn schließlich kann kein Mensch auf Dauer von Falafeln allein leben. Muss er auch nicht, zumindest nicht hier, wo am Stand „Greedy Khao“ Lee aus Dublin und Faai aus Bangkok ihr aromatisches Signature Red Curry aus Butternusskürbis, Chilischoten, Kokosmilch und Tofu-Puffs anbieten. Zum Nachtisch gibt es Brownies von Lele’s Patisserie oder eine Smoothie Bowl von Fruity Fresh. Anita aus Luton  nördlich von London, unter der Woche fürsorgliche Mutter zweier kleiner Kinder, püriert gerade frisches Obst mit Ahorn-Sirup und Zimt. Geschäftspartnerin Devora dekoriert die Kreation liebevoll mit Bananenscheiben, Kürbiskernen und Chiasamen. Die beiden sind neu hier. Smoothie Bowls mache außer ihnen noch keiner in London, sagen sie. Und wer hatte die Idee dazu? „Instagram!“, sagt Devora lachend.

„Dirty Vegan“ ist einer von vielen Gastronomietrends, die ihre rasche Verbreitung zumindest auf der Insel der Kombination von sozialen Medien und Streetfood-Märkten verdanken. Denn seit einigen Jahren brodelt es in London — man könnte auch sagen: Es brutzelt, köchelt, grillt und bäckt an allen Ecken und Enden. Während in den britischen Städten ein Laden oder Restaurant nach dem anderen schließt, brummt das Geschäft auf den Märkten in London, aber auch in Manchester, Birmingham und Leeds. Auf mehr als eine Milliarde Euro wird der Wert des Streetfood-Segments im Einzelhandel inzwischen geschätzt, Tendenz weiterhin steigend. Was nicht verwunderlich ist, weil die Straßenmärkte doch nahezu alles bieten: authentische Küche aus aller Welt, neu interpretierte Londoner Klassiker wie Salt Beefoder abenteuerliche Fusionen wie Halloumi-Pommes, „Yorkshire Burritos“ oder Boeuf-Bourguignon-Burger. Sogar Kindheitsfantasien kann hier ausleben und rohen Cookie-Teig aus dem Eisbecher löffeln, wem partout der Sinn danach steht.

Wie konnte es passieren, dass ausgerechnet in England in weniger als einem Jahrzehnt eine Streetfood-Kultur von solcher Vielfalt und Qualität entstand? Im Grunde fing alles mit Kaffee an, sagt Donald Hyslop, Vorsitzender des Kuratoriums von Londons berühmtem Borough Market,  gegründet vor etwa 1000 Jahren. Fast wäre er in den Neunzigern geschlossen worden, als das Großmarktgeschäft in die Docklands im Osten Londons abwanderte. Die  Allmacht der Supermärkte im Einzelhandel zu jener Zeit und Pläne, mitten durch den Markt neue Eisenbahngleise zu legen, taten ihr Übriges. „Kein Mensch interessierte sich damals für Märkte. Aber dann zogen ein furchtloser Käsehändler, eine ausgezeichnete Kaffeerösterei und ein spanischer Delikatessenverkäufer hier ein  und brachten ein Feinschmeckerpublikum mit, das sich dafür interessierte, woher sein Essen kam und was es enthielt.“

Wo deutsche Würste exotisch sind

Monmouth Coffee, Neal’s Yard Dairy und Brindisa mit seinen duftenden Ibérico-Schinken sind heute Wahrzeichen des Marktes, auf den es pro Jahr 15 Millionen Besucher zieht — Touristen wie Londoner gleichermaßen. Gigantischer Genusstempel und kulinarische Weltreise in einem ist dieser Markt, über dessen verzweigte viktorianische Dachkonstruktion aus Glas, Eisen und rotem Backstein in regelmäßigen Abständen Züge zum und vom benachbarten Bahnhof London Bridge donnern. An 109 Ständen gibt es hier so ziemlich alles von frischem Obst, Gemüse und Fisch über französische Trüffelöle und walisischen Caerphilly-Käse bis hin zu indischen Dosa, thailändischen Mini-Pancakes oder Ziegenmilch-Eis. Mittendrin steht, wie ein deutscher Schlagersänger, der sich auf ein Indie-Festival verirrt hat, der German Deli und grillt original Frankfurter und Thüringer Bratwürste. Hier ist das exotisch.

Ein Komitee dirigiert dieses riesige Food-Spektakel, das Donald Hyslop mit einer großen Kunstausstellung vergleicht. Die Parallele kommt nicht von ungefähr — Hyslop arbeitet im Hauptberuf in der wenige Minuten entfernten Galerie Tate Modem. Nur 20 Minuten Fußweg sind es von Borough zum Maltby Street Market im Stadtteil Bermondsey. Unter Eisenbahntrassen, in deren Gewölben wochentags Tischler hobeln und sägen, werden samstags und sonntags Austern, Gyoza auf einem Bett von gegrilltem Grünkohl, Gin-Cocktails der Marke Little Bird, griechische Delikatessen und Grillfleisch mit feurigen Saucen aus Mosambik angeboten. Sterneköche seien hier am Werk, heißt es. Einer soll früher sogar für Paul McCartney gekocht haben, raunt Eddie, der Besitzer des Standes „Waffle On“, Spezialität: Buttermilchwaffeln mit

Ziegenkäse, Feigen, Blaubeeren und Honig. „Streetfood ist der Punkrock der Gastronomie“, sagt der ehemalige Musikproduzent. „Brauchte man früher zwei Gitarristen, einen Drummer und eine Garage zum Proben, reichen heute eine heiße Platte oder ein Grill, Instagram und eine gute Idee.“

Es ist, als wäre er schon immer hier gewesen, dieser Markt, über dem verwitterte Signalflaggen von alten Schiffen im Wind flattern. Dabei entstand ererst2009, ausgerechnet in der Zeit von Lehman-Brothers Pleite und Massenentlassungen im nahen Bankenviertel. Im selben Jahr gründete der Food-Journalist Richard Johnson seinen Wettbewerb, die „British Streetfood Awards“. Ein Zufall? Im Gegenteil, glaubt Johnson: „Mit den gut bezahlten Jobs hatten viele Leute auch ihre Spesenkonten verloren, aber natürlich wollten wir alle weiterhin gut essen. Nur konnten wir uns die horrenden Restaurantrechnungen nicht mehr leisten.“

Johnsons „British Streetfood Awards“ haben es weit gebracht seit ihren Anfängen in Ludlow, wo es bei der ersten Austragung nur eine Handvoll Teilnehmer und einen Mixer als Preis für den Gewinner gab. Ganz anders heute: Das Finale im September in London war ein zweitägiges Festival mit Livebands und DJs, Craft Beer, Cocktails und natürlich bester Gourmetküche auf die Hand.

Zurück noch mal zum Sündentunnel in Soho, an dessen nördlichem Ende ein kleiner, legendärer Markt ums Überleben kämpft. Berwick Street Market ist nach Borough einer der ältesten der Stadt und bekannt für seine schrägen Typen. Einer davon ist Lance Walsh vom Stand Exotic Fruits, einem etwas bizarren Schrein für die Kultmarke Supreme, zu dem jugendliche Touristen vor allem aus China pilgern. Hohepriester Lance posiert routiniert für Selfies, im Internet findet sich ein ganzer Film über ihn. Obstverkauft er nebenher auch. Robin Smith vom Stand Soho Dairy sammelt Unterschriften für eine Petition zur Rettung des Marktes, mit dem sich die Stadtteilverwaltung schwertut, weil er nicht ins Konzept von einem neuen, sauberen Soho passt, einem mit Glas- und Stahlfassaden und Luxusapartments, das hinter den Marktständen wächst. „Dabei wurde London aus Märkten erbaut“, sagt Smith frustriert.

Weiter unten, am Obststand von Roy, der an dieser Stelle seit 60 Jahren aufbaut, bedient heute ein unverschämt gut aussehender junger Mann. Er heißt Luciano Zeraschi, auf seinem T-Shirt steht „Vegan Rudeboy“. Er arbeite hier nur, bis er das Geld für seinen eigenen Stand zusammenhabe, sagt er. Einen Obststand? „God, no!“, sagt er lachend. Vegane Burger will er verkaufen, südlich des Sündentunnels auf dem Vegan Market in der Rupert Street. Das Wichtigste hat er schon: eine Idee, ein Logo und einen Instagram-Account.

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